„Nur wenn ich vorher onaniere, kann ich schlafen“, entfuhr es dem jungen Mann viel zu laut.
Wie war es nur dazu gekommen? Ich saß schon eine Weile im Warteraum der Sprechstunde für Ruhelose Beine (RLS) im Klinikum Rechts der Isar in München. Hier hatte ich eine Woche zuvor meine erste Untersuchung und eine sehr ausführliche Anamnese hinter mich gebracht. Ich fühlte mich sehr gut angenommen und war, nachdem ich schon zwei Neurologen aufgesucht hatte, das erste Mal auf kompetente Menschen gestoßen. Ich saß also im Wartezimmer, das voll mit Patienten beiderlei Geschlechts besetzt war. Aber: Es waren weit mehr Frauen hier als Männer. Der Altersdurchschnitt muss um die Fünfzig gelegen haben. Nur ein junger Mann und zwei Frauen ungefähr gleichen Alters sorgten dafür, dass er nicht noch höher lag – sie waren um die Dreißig. Also mit diesem Jungen war ich ins Gespräch gekommen. Natürlich redeten wir über RLS, und er jammerte, dass es ihn schon in so frühen Jahren erwischt hatte. „Normalerweise bekomme es die Leute erst in den Fünfzigern, warum bei mir schon so früh?“ Er wiederholte es schon das dritte oder vierte Mal, und ich wies genervt auf Statistik hin, die nur vorgaukele, dass es pünktlich in dem und dem Alter aufträte.
Da fing er an, mich mit den Selbsthilfegruppen aus dem Internet zu nerven. Ich finde Selbsthilfegruppen ganz toll, aber ich bin kein Fan davon, in einem kleinen Wartezimmer über meine privaten Erfahrungen zu berichten, und er wollte immer irgendwelche Stellungnahmen von mir haben. Aber, wo war ich gerade? Ach ja, …
„Nur wenn ich vorher onaniere, kann ich schlafen“, sagte er zu laut, um heimlich zu sein und schob noch schnell ein „Hinterher, … schlafen … meine ich natürlich“, nach. Peinlich, peinlich, und ich wurde knallrot und sah mich vorsorglich um, um die zu erwartenden bösen Blicke der anwesenden Damen zu besänftigen und den Sprecher zumindest mimisch zu entschuldigen. Aber nein. Alle, ausnahmslos alle nickten, und sie lächelten sogar dabei.
Eine Dame, weit über Siebzig, beugte sich zur Nachbarin (der jüngsten der Anwesenden) und flüsterte halbherzig leise: „Bei mir hilft das nicht mehr, leider.“ Urplötzlich unterhielten sich die Anwesenden mit ihren Nachbarn. Es war, als ob ein Damm gebrochen wäre, und nach und nach erkannte und verstand ich, dass Sex eines der Mittel war, die wirklich helfen
– in speziellen Situationen, wo man nicht auf die Wirkung der Medikamente warten will oder kann. Verzeiht mir, aber ich sah im Geiste all diese Menschen bei ihren autoerotischen Aktionen vor mir, und mit einem Mal wurde mir erneut klar, wie verklemmt wir doch immer noch sind, selbst 40 Jahre nach Oswald Kolle und der sexuellen Revolution.
Kommen wir zur Autoerotik bzw. zum Sex überhaupt bei RLS zurück. Nein, das ist kein dummes, Selbsterfahrungsgeschwafel oder kommt von den Heilpraktikern oder Alternativ-Medizinern etc. Da ist auch nichts wirklich Geheimnisvolles dabei. Wissenschaftler beschäftigen sich mit dem Phänomen schon seit einiger Zeit. Luis Marin von der Federal University von São Paulo, Brasilien, schrieb einen wissenschaftlichen Artikel: „Selbstbefriedigung beruhigt RLS“. Nun bin ich nicht sofort ein blinder Fan von brasilianischen Forschern, in diesem Fall ist es anders. Man muss es als Betroffener nur einfach mal tun, um zu wissen, dass es stimmt. Gleiches gilt auch für nicht-autoerotischen Sex. Je besser, desto wirkungsvoller. Warum? Na, das altbekannte DOPA wird freigesetzt, und es wirkt sofort – fast so wie bei der „normalen“ Tablette. Leider ist das keine echte Alternative für die Einnahme der Medikamente. Man stelle sich das vor: Ich nehme beispielsweise 3 Mal am Tag meine Dosis, manchmal sogar öfter. Muss ich mehr sagen? In beiderlei Hinsicht wäre eine Überbeanspruchung nicht nur nicht auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich. Außerdem klappt es auch so nicht.
Onanieren macht nicht blind, sondern glücklich und damit müde, und es bringt kurzfristig die Hormonlage in eine bessere Situation. Dadurch könnten viele der Millionen Menschen, die unter RLS leiden, mal wieder vernünftig einschlafen. Wenn es das nicht wert ist, was dann? Das schienen auch die anwesenden Damen und Herren zu glauben, denn sie sprachen unter Benutzung der unglaublichsten Synonyme für Sex und Masturbation davon, wie sehr sie es genossen sich quasi halbmedikamentös, therapeutisch sozusagen, Erleichterung verschafften. Es hörte sich an, wie eine Selbsthilfegruppe zur Glorifizierung des Handjobs bzw. wilden Sexes, die versuchen, will, dies bei der Krankenkasse auf Rezept und mit professionellen Hilfskräften beiderlei Geschlechts erstattet zu bekommen. Als Schlafmittelersatz allemal. Ich will mich gar nicht lustig machen, denn es ist eine erlösende Methode.
Dummerweise gibt es auch noch eine andere Seite der Sex-Medaille. Deshalb: „Let’s talk about Sex“, oder unerwünschte Nebenwirkungen bei bestimmten Medikamenten? Ich werde auf dieses Thema im Punkt „Wirklich schlimme Fälle“ eingehen müssen. Denn leider gibt es auch diese andere Seite, wie bei Sex sicher nicht anders zu erwarten war. Es wäre ja sonst auch zu einfach.*